Der Vizedirektor Hiroo Fujita ist ein schmaler Mann von unermesslicher Freundlichkeit. Nicht einmal über die Pandemie sagt er etwas Schlechtes. Das Coronavirus behandelt er wie einen Gast, dem man seinen schwierigen Charakter nicht vorwerfen sollte. Klaglos haben Fujita und seine Chefin, die Direktorin Kuniko Nishino, ihre Grundschule Nummer sechs im Stadtteil Oizumi des Tokioter Sonderbezirks Nerima für den Schutz vor dem Krankheitserreger umgerüstet. Hiroo Fujita wirkt sogar ein bisschen stolz, wenn er auf das breite Handwaschbecken im ersten Stock zeigt. Es ist mit neuen Seifenspendern ausgestattet. Markierungen auf dem Boden zeigen, welchen Abstand die Schülerinnen und Schüler beim Anstehen halten sollen. Scheiben und durchsichtige Planen mindern das Infektionsrisiko in Werkraum und Bibliothek. Ein Papier informiert über die Vorsichtsmaßnahmen, und Fujita sagt: "Die Lehrkräfte desinfizieren die Bänke."
Nur bei einem Thema ist ihm ein Hauch von Unzufriedenheit anzumerken: Wegen der Pandemie sind die Sommerferien dieses Jahr schon an diesem Montag zu Ende. Nach drei Wochen statt nach sechs wie normalerweise. Hiroo Fujita trägt eine Schutzmaske, man kann ihm nicht ansehen, ob seine Gesichtszüge Anflüge von Müdigkeit verraten. Aber er sagt: "Ich glaube nicht, dass das einen guten Effekt hat."
Japan lässt seine Kinder und Jugendlichen nachsitzen nach den Schulschließungen im Frühjahr wegen der Pandemie. Schon Ende Juni fragte das japanische Bildungsministerium 1811 Kommunen, die öffentliche Grund-, Mittel- und Oberschulen betreiben, wie sie heuer mit der Sommerpause umgehen. Ergebnis: Mehr als 90 Prozent der Verwaltungen kürzen die großen Ferien, um Verpasstes nachzuholen. In Oizumis Grundschule Nummer sechs dauerten sie nur vom 1. bis 23. August - ursprünglich standen sie vom 18. Juli bis 31. August im Kalender. In anderen Kommunen waren die Ferien schon vergangene Woche zu Ende. Die Nachrichtenagentur Kyodo berichtete, dass eine Grundschule in Takasago, Präfektur Hyogo, nur eine Sommerpause von neun Tagen zuließ. Lehrer, Eltern, Schüler nehmen es letztlich hin, wie fast immer in Japans Konsensgesellschaft. Dabei gäbe es durchaus Anlass, die Entscheidung zu hinterfragen.
Japans Schulen wurden in der Pandemie früh zu einem Spielfeld des politischen Aktionismus
Schon früh in der Pandemie wirkten die Schulen in Japan wie Spielfelder eines politischen Aktionismus, mit dem der rechtskonservative Premierminister Shinzō Abe seine Umfragewerte aufzubessern versuchte. Ende Februar überraschte Abe mit seiner eiligen Empfehlung an sämtliche Schulen im Land, den Unterricht vorerst einzustellen, um die Verbreitung des Coronavirus zu verhindern. Japans Regierung hatte damals ein missratenes Quarantäne-Management auf dem Kreuzfahrtschiff Diamond Princess im Hafen von Yokohama zu verantworten. Dazu kam die Kritik, dass sie nicht entschlossen genug gegen das Coronavirus vorgehe. Die Infektionszahlen im Land waren zu diesem Zeitpunkt noch relativ niedrig. Deshalb vermuteten viele, Abe wolle sich mit seiner Ansage an die Schulen vor allem als starker Staatslenker inszenieren. Aber außer der Präfektur Shimane folgten alle Regionalregierungen. Berufstätige Eltern waren sauer, weil sie ihre Kinder plötzlich nicht mehr in die Schule schicken konnten. Und den Schulen selbst brachte die Schließung viel Stress.
"Wir waren sehr beschäftigt damals", sagt Vizedirektor Fujita. Er sitzt jetzt in einem Konferenzraum. Direktorin Nishino hat zur Erfrischung kalten Kaffee gebracht, das macht man oft so in Japan. Und Fujita erzählt von den Wochen des Stillstands, der kein Stillstand war. Am 28. Februar wurde der Unterricht ausgesetzt. Aber erst im April waren die Infektionszahlen in Japan so hoch, dass die Regierung den Notstand ausrief, der dann bis Ende Mai andauerte. Über drei Monate kamen also keine Schüler. Online-Stunden gab es nicht. Die Grundschule Nummer sechs in Oizumi ist eine ganz normale sechsstufige Grundschule mit Sandsportplatz, schmuckloser Betonfassade und Schülerkunst in den Gängen, wie es sie überall in Japan gibt - für den digitalen Fernunterricht ist sie noch nicht ausgestattet. "Wir mussten Aufgaben für zu Hause geben", sagt Hiroo Fujita.
Bis zu 32 Seiten pro Schüler für die Zeit der Schließung. 450 Kinder gehen in seine Schule. "Wir haben den einen unserer zwei Drucker kaputt gemacht." Wenn die Aufgaben zurückkamen, mussten sie korrigiert werden. Außerdem gab es die Vorgabe des Bezirks Nerima, während der unterrichtslosen Zeit die Gesundheit der Kinder im Blick zu behalten. Das bedeutete, dass die Lehrkräfte anfangs einmal, später zweimal pro Woche bei jedem Schüler, jeder Schülerin anrufen mussten, um nach dem Befinden zu fragen. Drei Telefone hat die Schule. "Die waren immer besetzt." Hiroo Fujita folgert: "Eine richtige Pause gab es nicht."
Und zur Belohnung werden die Ferien gekürzt? In Japan ist es vor allem in den höheren Klassenstufen üblich, dass die Schüler in den freien Wochen lernen. Je näher der Abschluss der Oberschule und die Aufnahmeprüfungen zu den Universitäten rücken, desto größer wird der Druck. Für diese Jugendlichen ist es vermutlich egal, ob die Ferien drei oder sechs Wochen dauern. Aber die jüngeren Semester haben diesen Druck noch nicht. Ihre Eltern haben die Sommerferien fest eingeplant. Vor allem für Großstadtfamilien sind sie die Zeit, zu den Großeltern aufs Land zu fahren oder einfach mal raus aus den Häuserwäldern.
Die kurzen Sommerferien dürften sich für viele anfühlen wie eine unliebsame Zugabe zu den Einschränkungen, die es ohnehin gab. In Japan endet und beginnt das Schuljahr im Frühjahr, vor allem für Grundschüler sind die Zeremonien zur Einschulung oder zum Wechsel in die nächsthöhere Klassenstufe besondere Ereignisse - in diesem Frühling gab es sie nur in abgespeckter Form. Viele Schulen haben Corona-Ausfälle durch Samstagsunterricht kompensiert. Und die Schutzmaßnahmen haben den Schulalltag auch nicht lustiger gemacht. Im Juni berichtete die Nachrichtenagentur Jiji von einer Tokioter Privatschule, die ihren Schülern sogar vom Schwätzen auf dem Schulweg abriet.
"Kinder sind keine lernenden Roboter", mahnt der Bildungskritiker Chikara Oyano in einem Beitrag für das Online-Portal Otonanswer. In den Bildungsausschüssen der Kommunen muss es teilweise kontroverse Debatten gegeben haben - das entnimmt man einem Artikel des Bildungsexperten Masatoshi Senoo. Er selbst findet, dass es auf den Ort ankommt. Lange Sommerferien seien etwa an Schulen ohne Klimaanlage wichtiger, um Hitzschlägen im Unterricht vorzubeugen. Aber die Mehrheit der japanischen Fleißgesellschaft ist sich wohl einig: Nachsitzen muss sein. In einer Umfrage des Internetportals Yahoo Japan mit knapp 40 000 Teilnehmern waren 69,3 Prozent für kürzere Schulferien.
Die Moral der Kinder an der Grundschule Nummer sechs scheint intakt zu sein. "Sie machen sich nicht so viele Sorgen", sagt Hiroo Fujita, "zumindest sehen sie so aus." Und die Lehrkräfte? Es ist normal in Japan, dass sie auch in den Ferien arbeiten. Drei Wochen Sommerurlaub haben sie normalerweise trotzdem. Dieses Jahr sind es höchstens acht Tage. "Wir versuchen, das als etwas Gutes anzunehmen", sagt Hiroo Fujita. Wie auch immer das gehen soll.
August 23, 2020 at 11:45PM
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